Hier werden die vergangenen Kurzgeschichten archiviert und in der ausgestellten Reihenfolge aufgelistet. Für die aktuelle Kurzgeschichte existiert eine separate Seite, sodass diese eigenständig gelesen werden kann. Im nächsten Monat gliedert sich diese dann auch hier ein. Freut euch auf viele kleine Geschichten.
Das Erwachen
Bund im Windklang
Arkaner Alltag
Ein Quäntchen Unvermögen
Die Kälte der Vjorda
Die Sehnsucht im Stein
Asche zu Asche - I
Asche zu Asche - II
Nachglühen
Das Gold des frühen Vogels
Grundstein
Zeit: unbekannt, Ort: unbekannt
Langsam richteten sich seine Sinne neu aus und ein Gefühl von Orientierung entstand zögerlich. Eine Gedankenflut brach über ihn hinein: unzusammenhängende Fetzen von Geschehnissen einer ganzen Welt und etlichen Kulturen vermengt mit surrealen Wunschbildern und verblassten Erinnerungen. Fragen über Fragen bildeten sich in seinem Kopf und stürzten ihn beinah in die Ohnmacht. Um nur einzelne Punkte beantworten zu können, musste er seine gesamte Konzentration aufbringen, was unter den aufkeimenden Gliederschmerzen und der Übelkeit nur schwer möglich war.
Wer? Eine Erinnerung von Hass und ein Gefühl von Einsamkeit kamen in ihm auf. Er hatte sich von seinesgleichen getrennt. Ein überraschender Reiz von Übelkeit beraubte ihn seiner Gedanken und sein Körper entriss ihm die Kontrolle, um unter Tränen und Schluchzen zu erbrechen. Er hatte die Einsamkeit gewählt, weil es die bessere Option war. Verschwommen nahm er seine Umgebung wahr: eine abgesondert graue Ödnis. Kurz schmunzelte er, um sich seiner eigenen Ironie bewusst zu werden, denn er hatte damals diesen Ort ausgewählt. An die Werte, die er einst mit seiner Umgebung verbunden hatte, erinnerte er sich nicht mehr, doch just in diesem Moment fühlte er vieles, was ihn versuchte niederzuringen: Stagnation, Einsamkeit, Verlorenheit und Tod. Hilflos versagten seine Glieder und er sank zu Boden. Mit seinen letzten Kraftanstrengungen schaffte er es in die Rückenlage und erkannte das bunte Gebilde zwischen den strahlenden Sternen.
Urplötzlich keimte in ihm etwas auf. Er konnte nicht einordnen, ob es Hoffnung oder eine bittere Erkenntnis war, aber er klammerte sich an dieses Gefühl und gab ihm Raum. Ebendas war der Grund, warum er die Einsamkeit gewählt hatte, andererseits gleichzeitig der letzte Sinn seiner Existenz. Eine Ewigkeit hatte er sich davor verschlossen und sich in Scheinwelten geflüchtet.
Finstere Erinnerungen aus unterschiedlichen Träumen eines und desselben Ereignisses drangen in seinen Kopf. Ein unzureichender Name Göttersturz, gesprochen von vielen verschiedenen, brannte sich schmerzhaft tief in seine Gedanken. Sie waren alle weg. Seine Geschwister waren allesamt tot und erloschen, ausgerottet durch ihr eigenes Wesen. Wortfetzen und Ausrufe von der Katastrophe Milida’ans hallten in ihm weiter und wieder kam die Übelkeit empor. Unzählige alternative Versuche, Wünsche und Träume dieses Ereignis zu überspielen, mischten sich als bitteren Beigeschmack dazu. Die gegenwärtig auf ihn einstürzende Welle aus Gedanken und Emotionen konnte er in seinem aktuellen Zustand nicht bewältigen. Mit der schieren Angst übermannt zu werden, verdrängte er alle einkommenden Sinngebungen und versuchte seinen Fokus auf den Moment zu legen.
Die Trostlosigkeit und Stille um ihn herum empfand er zum ersten Mal als Segen, der ihm half, sich zu besinnen. Hatte sein vergangenes Ich den hilfreichen Zweck dieses Ortes erahnt? Die Antwort würde ihm nicht weiterhelfen in der gegenwärtigen Situation, daher versuchte er erneut, sich auf das Wesentliche zu besinnen.
Wieso? Langsam ordneten sich seine frischen Gedanken und Erinnerungen. Für seine Abgeschiedenheit hatte er sich den ewigen Traum erschaffen, ein Abbild der Wirklichkeit unter seinen Wünschen und Fantasien neu geformt. Wie viel Zeit verstrichen sein musste, konnte er nur grob einschätzen, es hatte sich zu etliches gewandelt. Nur weniges hatte er in Utopia, seinem ewigen Traum, davon mitbekommen.
Von all den Ungewissheiten und Fragen gab es jedoch eine, die sich immer nachdrücklicher in seinen Verstand bohrte. Wieso war er aus dem ewigen Traum erwacht? Er konzentrierte sich, wägte verschiedene Optionen ab und trennte Tatsachen von Vermutungen. Zeit war vorher nur ein relatives Konstrukt für ihn gewesen, denn in seinem ewigen Traum hatte ein Teil von ihm die Vergangenheit stets an die Wirklichkeit angepasst, während ein anderer die zukünftigen Entwicklungen geformt und begutachtet hatten.
Eine ernsthafte Miene bildete sich auf seinem Gesicht und entschlossen richtete er seinen Blick zum bunten Fleck. Sein ewiger Traum war zu seinem Ende gekommen, war seine einzig logische Erkenntnis. Sämtliche Zukunftsvisionen müssen gegen jegliche Vernunft in purer Hoffnungslosigkeit geendet haben, sodass er sich geweckt haben muss. Denn wer, außer er selbst, sollte in der Lage sein, seinen ewigen Traum zu beenden.
Etwas musste geschehen sein, dass er jetzt noch nicht verstehen konnte. Seine Gedanken waren weiterhin zu zerstreut, fern ab von einem gradlinigen Bewusstsein oder einem geordneten Denkprozess. Zu lange hatte er seine Gedankengänge parallelisiert und mit getrennten Bewusstseinsebenen geträumt. Um die Lage besser einschätzen zu können und Fakten von Fiktion zu trennen, musste er zurück nach Artamis. Zu eben jener Welt, die er damals hinter sich gelassen hatte und dennoch in seinem ewigen Traum zu lieben gelernt hatte. Denn er musste herausfinden, was sein Unterbewusstsein erkannt und welche Aufgabe es ihm zugeschrieben hatte.
Eine Reise mit ungewissem Anfang und unklaren Ziel hatte begonnen. Aus sich selbst heraus war eine Antriebskraft entstanden, die auf das empfindliche Netz des Schicksals gelassen wurde.
Zeit: -363 NZ; Ort: Klangklippen, Schrein der Zusammenkunft
Eine lauwarme Brise umspielte Kiras linken Arm, der nicht von der wärmenden Decke ummantelt wurde. Sie war so aufgeregt, dass sie kein Auge zu bekam. Wilde Träumereien von dem morgigen Ereignis, besonders von Iraya und ihrer Erscheinung, ließen Kira nicht zur Ruhe kommen. Wieder einmal wechselte sie mit einem beherzten Lächeln ihre Liegeposition, sodass nun ihr rechter Arm vom Wind umspielt wurde.
„Kannst du nicht schlafen mein Liebling?“, fragte die sanfte Frauenstimme ihrer Mutter. Behutsam wurde ihr Arm zugedeckt und sachte schmiegte sich Kira an. Sie war mit ihren Eltern aus dem nahen Heimatdorf hierher gereist, um den ersten Bund zweier Avatare mitzuerleben: Iraya, die Avatarin der Freiheit, und Orayus, dem Avatar der Ordnung. Ihre Eltern waren selbst den Bund eingegangen, aber eine Vermählung unter Avataren hatte es seither nicht gegeben. Zögerlich tippte Kira ihre Mutter an: „Was genau passiert morgen?“.
Schmunzelnd wird ihr geantwortet: „Nun, mein kleines Wölkchen, morgen wird zum ersten Mal in der Geschichte ein Bund zwischen zwei Avataren besiegelt und von allen Reichen beglückt und gesehen. Der Bund ist von den Ewigen selbst gegeben, ein machtvolles Geschenk an uns Sterbliche. Es ist ein Zeichen, ein Versprechen und eine Bindung gleichermaßen, dass man für immer und ewig miteinander verbunden sein möchte.“ Kira kannte eine solche Zeremonie nicht und ersann die ulkigsten Arten, wie sich zwei Avatare untereinander verbinden konnten.
„Alles, was die Ewigen erschaffen haben, hat eine Essenz, die wir oft auch Seele nennen. Aber auch Pflanzen, Tiere, Bäume, Steine, sogar die Winde haben eine eigene Essenz. Mit dem himmlischen Bund vereinen sich zwei Seelen, indem jeder dem anderen ein Teil seiner Seele übergibt. Ein ewiges Band entsteht morgen zwischen den Avataren, wie auch bei deinem Vater und mir, das selbst den Tod zu überwinden mag. Denn selbst wenn wir eines Tages in die Dämmerlande reisen, werden wir uns durch unser Band wiederfinden.“ Eine Wärme ging von ihrer Mutter aus, die Kiras wohlig umgarnte.
„Nebenbei ist es unglaublich romantisch und wunderschön anzusehen, du wirst es lieben. Man erzählt sich, dass der Avatar der Ordnung den Gott Alfaniir selbst darum gebeten hat, den Schrein der Zusammenkunft hier zu formen und atemberaubend zu gestalten. Aber nun schlaf mein Wölkchen, denn morgen Nacht dürfen wir selbst dieses Wunder bezeugen.“ Die Erzählungen ihrer Mutter machten es Kira nicht leichter einzuschlafen, doch ihre Träume wurden umso zauberhafter und nach etlichen Hirngespinsten sank auch sie in den Schlaf.
Die kräftigen Strahlen des Abendlichts wären Kira beinah zum Verhängnis geworden. Das Licht hatte sie unerwartet geblendet, als sie die letzten Steine der kunstvoll verzierten Arkade überwunden hatte. Ihre Eltern wollten unauffällig im Gewirr der unzähligen Zuschauer und Gäste stehen, doch Kira war zu klein und fand sich nicht mit dem mageren Blickfeld ab.
Die Szenerie war so wunderschön, dass sie furchtlos entschloss, die Steinsäulen zu erklimmen. Das Plateau war gen Herzen gewand und so hoch gelegen, man konnte sogar in der Ferne die Götterstadt, Milida’an, erkennen. Auf der Bergfläche befanden sich meisterliche Steinsäulen, die nur durch die eleganten Arkaden übertroffen wurden, die jene miteinander verbanden und das Gefühl eines Himmeldaches aufkommen ließen. Selbige waren mit unzähligen kleinen und großen Kristallen und Edelsteinen in verschiedensten Farben geschmückt. An der Spitze des Plateaus war ein einzelner Torbogen, imposanter und eindrucksvoller als alle anderen, über einen güldenen Altar errichtet. Auf diesem lag das geflochtene Band aus den silberweißen Fäden der Äonisen, den ältesten Bäumen auf Artamis.
Nachdem der erste Schock zu Fallen von Kira überwunden war, sah sie das Wunder dieses Ortes, das sich mit dem aufkommenden Lichtschein offenbarte. Die Kristalle, Löcher, kleine Spiegel und bunte Edelsteine teilten das Licht und tränkten das Plateau in ein farbenfrohes Lichtspiel. Von überall hörte man das aufkeimende Staunen der Gäste, es war wahrlich phantastisch und keiner von ihnen hatte auch nur ansatzweise etwas Vergleichbares gesehen.
Es vergingen einige Augenblicke, bis sich das Staunen legte und die Blicke der Gäste nach vorne zur Spitze des Plateaus wendeten. Kira kniff die Augen zusammen und schirmte das einfallende Licht mit der Hand ab. Nur wenige Orte waren tatsächlich hoch genug, um das sogenannte Abendlicht zu bestaunen, doch die Klangberge gehörten dazu. Unten in ihrem Heimatdorf würde es bereits dunkel sein, aber Kiras Aufregung ließ jegliche Müdigkeit vergehen.
Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das gleißende Licht und sie erkannte eine Silhouette am Altar stehen. Die Umrisse enthüllten nur Grobes, aber die Spitzen einer Krone und einen, im Wind wallenden, Umhang offenbarten eine majestätischen Präsenz. Den Erzählungen nach konnte dies nur Orayus sein. Stand er die ganze Zeit da? Hatte er sich hinter dem Altar versteckt oder war er während des blendenden Lichts auf Drachen hierher geflogen? Kiras Fantasie malte verschiedensten Szenerien aus, ohne ihr eine Antwort zu geben. Es wurde still, selbst der Wind schien sich ehrfürchtig zu legen, und alles wartete gespannt auf die Ankunft von Iraya, während die Umrisse von Orayus seelenruhig dort vorne verharrten.
Eine kleine Böe umspielte das lockige Haar von Kira und schien einmal um sie herum zu kreisen. Ein erstes Pfeifen war zu vernehmen, als ob der Wind sich vorbereiten würde und sich selbst einstimmte. Dann begannen sanften Böen durch die Klangberge zu ziehen und eine ruhige Melodie fand ihren Anfang. Dieses Wunder war Kira bereits bekannt, da sie im nahen Dorf lebte und das nächtliche Windspiel der Berge öfter vernommen hatte. Man sagte den Klängen nach, dass sie von überall anders zu vernehmen sind. Dieses Mal bildeten sie eine mitreißende Sinfonie, die die besten Musiker zu Tränen erregt hätte.
Gemeinsam schienen das Lichtspiel und die harmonischen Klänge auch die anwesenden Leute zusammen zu bringen. Kira beobachtete, wie sich nahestehende Personen die Hände reichten oder sich in den Arm nahmen. Dann besah sie ihre Eltern und erkannte ein verträumtes Lächeln auf ihren Gesichtern, während sich ihre Finger liebkosten. Ist es dieses besondere Band, von dem Mutter gestern erzählt hatte, dass sie zum Strahlen bringt? Oder ist es der mitreißende Augenblick? Letztlich war es Kira egal, da sie sich auch so für ihre Eltern freute und gar selbst ungezwungen lächelte.
„Was für ein unvergleichliches Spektakel, oder?“, vernahm sie links von sich. Eine junge Dame mit luftigem Blumenkleid schwang sich zu ihr auf die Arkade. „Dies ist einer meiner Lieblingsorte. Ich komme gern hierher, um mich von der Harmonie beflügeln zu lassen. Meistens ist hier deutlich weniger los, aber dafür habe ich noch nie einen solch atemberaubenden Lichtzauber erlebt.“
Weiterhin verzaubert von der ganzen Situation schaffte es Kira kaum zu einem Wort. Sie wollte etwas sagen, über ihre Eindrücke sprechen oder die Gefühle, die in ihr herumwirbelten. Die Fremde lächelte und nahm ihre Hand.
„Worte sind manchmal nicht so wichtig. Genieße den Augenblick und die Wunder, die diese Welt zu bieten hat. Ich heiße übrigens Aurora, freut mich dich kennen zu lernen!“
Gemeinsam verfolgten sie das Spiel der Winde und Felsen, lauschten gebannt und summten gar ein wenig mit. Kira spürte die Wärme, die von Auroras Hand ausging, und fühlte sich wohl. Instinktiv schloss sie die Augen und erlebte die Umgebung noch intensiver: Der Geruch von frischen Frühlingsblumen, das wärmende Licht auf ihren Wangen, das Summen und Zirpen der Tiere, welches das Klangspiel untermalte. Wieder stahl sich ein zufriedenes Lächeln auf Kiras Gesicht, bevor sie die Augen behutsam öffnete und mittlerweile selbst eine natürliche Glückseligkeit ausstrahlte.
„Ich fühle mit dir!“, sagte Aurora sanft zu ihr herüber. „Wie wäre es mit einer Wette? Ich habe hier einen ungeschliffenen Bernstein, durch den man gegen das Licht schauen kann. Wir schätzen beide, wann Iraya erscheint und wer von uns näher dran liegt, darf durch den Bernstein gucken. Ich sage in 200 Herzschlägen.“, dabei löste sie ihre Hand und legte sie sich andächtig auf die Brust. Kira war von der Situation so überrascht, dass sie nicht nachdachte, sondern sofort mit der doppelten Zahl antwortete.
Ebenso schmiegte sie ihre Hände auf die eigene Brust und schloss erneut die Augen. Jeden einzelnen Herzschlag spürte sie, wie eine Welle aus Kraft, Mut und Hoffnung, die sie durchflutete. Die Aufregung und Anspannung wuchs mit diesen. So ausgiebig hatte sie sich noch nie wahrgenommen. Die Melodie und das gleißende Licht schienen von ihr absorbiert zu werden und in jede Faser ihres Körpers zu gelangen. Anfangs war ihr Puls besonders rasend und aufgeregt, was sie grübeln ließ. Schlagen unsere Herzen überhaupt gleich schnell? Wessen Herzschlägen sind mehr Wert? Bei welcher Zahl war ich gerade?
Als Kira bei der vermeintlichen Anzahl angekommen war, öffnete sie behutsam die Augen. Wieder benötigte es etwas Zeit, bis sie sich an das grelle Abendlicht gewöhnt hatte. Sie tastete nach links, aber anstelle von Aurora ergriff sie nur einen kleinen Stein. Andächtig hob sie ihn an und die hellen Lichtstrahlen ermatteten und teilten sich in dem Braungold des Bernsteins. „Aurora?“, rief sie verwirrt und schaute sich um, doch die junge Frau war verschwunden.
Plötzlich raunte ein weiteres Staunen durch die Menschenmasse und verleitete Kira dazu, nach vorne zu schauen. Durch den Edelstein konnte sie nun mehr Details von Orayus, der ihr den Rücken zugewandt hatte, erkennen. Durch ihre seitliche Position erkannte sie einen erwartungsvollen Blick, gepaart mit einem aufrichtigen Lächeln. Weiter in der Ferne erblickte sie, ebenso vom Licht umgarnt, Iraya mit ihren großen Flügeln. Sie flog andächtig zu dem Plateau und landete bewusst auf der gegenüberliegenden Seite des Altars. Während alle anderen nur die grazilen Umrisse der Avatarin bestaunen konnten, nahm Kira durch den Bernstein die bunten Schwingen und den Reif aus Sternenglanz über ihrem Haupt wahr. Sie war etwas kleiner als Orayus, aber ebenso stolz und anmutig. Ihr Kleid schien aus verschiedenen farbenfrohen Schmetterlingen zu bestehen, die im Takt der Melodie ihre Flügel schlossen und auffalteten. Indes trug Orayus prunkvolle Gewänder und eine Vielzahl von Geschmeide, geradezu überschwänglich vom Auftreten, aber passend zu seiner herrischen Ausstrahlung.
Die Sinfonie des Windes verfiel in einen sanften Tonus, als die Avatare das silberweiße Band auf dem Altar nahmen und sich je um einen Arm wickelten. Gespannt verfolgte die Menge das Schattentheater. Es war im wahrsten Sinne des Wortes mystisch, wie andächtig und sorgsam die beiden das Silberband um ihre Unterarme legten und sich dabei immer wieder mit unverfälschtem Lächeln in die Augen blickten.
Passend versiegte der Wind und eine Wolke verdunkelte den Hauptstern, als die beiden ihr Werk vollendet hatten. Nun wandten sich die Avatare zum Volk und sprachen gemeinsam die bindenden Worte: „Ich bin dein und du bist mein.“ Die silberweiße Kette leuchtete bestätigend im hellen Sternenlicht auf. Ein pulsierendes Leuchten, das im Takt ihrer Herzschläge immer mehr in Einklang geriet. Dann verging das Band und löste sich schwindend in kleine funkelnde Partikel auf, die zum Himmel glitten. Kira konnte nicht anders, als dem feinen Funkeln nachzusehen und fragte sich insgeheim, ob alle Lichter am Firmament so entstanden sind. Bald konnte sie die Funken nicht mehr von den Sternen unterscheiden und senkte ihren Blick wieder. Gerade noch rechtzeitig, denn im nächsten Augenblick, stürzten sich Orayus und Iraya Hand in Hand von der Klippe.
Erschrocken schärfte Kira ihren Blick und auch einige andere schienen unnötig besorgt, nur um wenige Augenblicke später die beiden gemeinsam gen Milida’an fliegen zu sehen. Gemächlich kehrte ihre Gelassenheit zurück und sie freute sich ungemein für das frische Paar. Ihre Eltern glaubten fest daran, dass dieser Tag den Beginn eines langjährigen Friedens sichern würde. Unter den Gästen entbrannte jubelnd eine Feierlichkeit und Kira war sich gewiss, dass sie das Wunder dieses Tages ein Leben lang nicht vergessen würde.
Zeit: 231 NZ; Ort: Schwarze Sande, Adelshaus in Kiraf
Eine Nebelkrähe saß auf einem schattigen Geäst einer großen Rotbuche, die in der Grünanlage des Anwesens stand. Iona musterte sie nun schon einige Augenblicke, lauschte ihren Klängen, verfolgte ihre Blicke und stellte sich zahlreiche Fragen: Warum war sie dort? Suchte sie Schutz im Schatten oder einen geeigneten Zweig für ihr Nest? Nahm sie etwa auch Ionas Essenz wahr, wie sie ihre spürte? Zu gerne würde sie diesem überflüssigen Unterricht entfliehen und sich mit der Nebelkrähe unterhalten. Als Abkömmling der Avatarin des Wissens war sie von Geburt aus höheren Standes, wissbegierig und neugierig. Im Alter von vier Jahren hatte sie sich bereits das Lesen angeeignet und seitdem ein ehrgeiziges Selbststudium betrieben. Besonders stolz war sie darauf, dass sie sich die Grundlagen der arkanen Künste und deren wesentliche Theorie beigebracht hatte.
Ein lautes Klatschen riss Iona aus ihren Gedanken und ertappt musste sie feststellen, dass alle Augen im Saal auf sie gerichtet waren. Ihre Dozentin löste ihre Hände wieder und wand sich mit strafender Stimme an sie: „Miss Hochwohlgeboren, Iona Deym von Asaltingen, stören wir Sie oder empfinden Sie meinen Unterricht als langweilig?“ Angeödet und intuitiv erwiderte Iona: „Ja, aber machen Sie ruhig weiter Frau Dessort. Ich bin sicher, dass meine entfernten Cousinen und Cousins noch einiges von Ihnen lernen können.“
Empört starrte die Dozentin sie an und das nicht zum ersten Mal in der letzten Woche: „Miss Deym, Sie halten sich wahrscheinlich für etwas ganz Besonderes, da sie ja von primärer Abstammung sind. Es freut uns alle sehr, dass ihre Mutter eine Kohabitation mit Cheera, der Avatarin des Wissens, erfahren durfte. So wie zwei Dutzend andere Personen es auch genießen durften. Den Stand können wir uns nicht aussuchen, aber über unseren Verstand können wir selbst bestimmen.“
Anmaßend belächelte Iona ihre Lehrerin: „Ich muss ein Glückskind sein, denn ich habe beides: Gehobenes Blut wie einen geschärften Verstand. Soll ich für Sie übernehmen? Wo waren Sie gerade? Bei der arkanen Hierarchie, deren Nutzung und Bedeutung?“
Die entrüstete Miene der Dozentin reichte Iona, um selbstgefällig nach vorne zu stolzieren und sich mit einem siegreichen Lächeln umzuwenden. Sie nahm sich einen Moment und genoss die erwartungsvollen Blicke der anderen, während Frau Dessort resigniert zur Seite schritt. Dann begann sie mit ihrer Ausführung: „Am Anfang waren die Vinalii, auch Ewige von Gewöhnlichen genannt, da und erschufen unsere Welt, die Tiere, die Elementvölker und uns Menschen. Sie waren die Einzigen, die Schöpfungsmagie wirken konnten. Eine verlorene Kunst, die mit dem Untergang der Vinalii und der Hauptstadt Milida’an vergangen ist. Ihre Stellvertreter und heutigen Götter, die Avatare, sind die mächtigsten Geschöpfe auf Artamis“, sie betonte dabei absichtlich das Wort Götter. „Neben ihnen haben die Elementarwesen enorme Macht, jedoch sind sie eingeschränkt in ihren Möglichkeiten, da sie nur ihr eigenes Element beherrschen können.“
Iona machte eine kurze Pause und ging zur Marmor-Tafel, wo sie sich ein Stück Kohlekreide nahm. Entschlossen ballte sie eine Faust um die Kreide und erfühlte dessen Struktur. Schwungvoll drehte sie sich wieder zur Klasse zurück. Nun fehlte für ihre Demonstration nur noch der richtige Auslöser in Form eines passenden Grundgedankens oder eines starken Gefühls. Feuer ist ein Symbol der Macht. Mit einem triumphierenden Lächeln erkannte Iona die Ausgereiftheit der Situation, in der sie sich befand. Das Ergebnis, auf das sie hoffte, war gleichzeitig der Antrieb, den sie brauchte. Einen kurzen Augenblick später breiteten sich feurige Flügel hinter ihr aus und Flämmchen umspielten ihre Arme. Sie und ihre Kleider blieben von den lechzenden Flammen verschont. Die letzten Reste der Kohlekreide rieselten aus ihrer Hand, während ihre Mitschüler erstaunt und ein wenig erschrocken dreinblickten.
„Und natürlich sind wir Menschen in der Lage die arkanen Künste zu beherrschen. Im Grunde kann jeder Mensch Magie wirken, jedoch sind wir, die von den Avataren selbst abstammen, mit besonders großer Macht beschenkt. Direkte Nachkommen, wie ich, haben ein besonders großes Potential, während Abstammungen quintären Grades kaum Vorteile im Vergleich zu einfachen Bauern besitzen“, dabei schaute sie abschätzig in Richtung eines blonden Großcousins. Sie war die Einzige primären Ursprungs im Saal, obwohl die anderen zu ihrer Sippe im entferntesten gehörten. Durch ihr engagiertes Selbststudium konnte sie mit jungen sieben Jahren bereits grundlegende Magie wirken, obgleich sie nicht alle Details der arkanen Künste verstanden hatte.
Nach einer kleinen stilistischen Pause vergingen die Flammen um sie herum und Iona nahm eine belehrende Haltung ein: „Um Magie zu wirken, benötigen wir Katalysatoren, die verbraucht werden oder treffender formuliert: Wir verbrauchen oder verformen Essenzen. Da alles auf Artamis eine Essenz besitzt, können wir praktisch auch alles als Katalysator nutzen, nur sind manche effektiver und gewisse hinderlich.“ Sie verschwieg ihre anfänglichen Versuche, Magie zu wirken. Unbewusst hatte sie ihre eigene Essenz genutzt, um ihre Haarfarbe und Frisur zu ändern. Drei Tage später ist sie erst aus der Ohnmacht erwacht, in die sie gefallen war. Glücklicherweise blieben keine beständigen Schäden und ihre Essenz hat sich allmählich regeneriert.
„Ein Katalysator reicht jedoch nicht aus! Zu eurem besseren Verständnis könnt ihr einen solchen beispielsweise als Lampenöl interpretieren. Für eine erhellende Lampe benötigt man aber noch einen Funken. Bei den arkanen Künsten bedarf es einer starken Emotion oder eines intensiven Grundgedankens, um den Prozess zu initiieren“, mit einem abschätzenden Blick schaute Iona in die fragenden Gesichter ihrer Mitschüler. Ein Gefühl der Überlegenheit verankerte sich in ihr und füllte sie mit einer inneren Zufriedenheit und Wärme aus. Ihre niederadligen Verwandten würden ihr nie das Wasser reichen können. Einzig vor Frau Dessort hatte sie angemessenen Respekt, auch wenn sie diesen absichtlich verbarg. Ihre Lehrerin war zwar keine Adlige, aber sie war ihr etliche Lehrjahre voraus und durchaus begabt. Es wurmte Iona etwas, dass selbst gewöhnliche Leute mit ausreichend Eifer und Fleiß solch herausragende Fähigkeiten erwerben konnten. Auf der anderen Seite würde sie mit ihrem eigenen Ehrgeiz, davon war sie überzeugt, ein enormes Potential erreichen können.
Für ihre letzte Ausführung nahm sie noch einmal einen tiefen Atemzug und genoss es, sämtliche Aufmerksamkeit auf sich zu spüren. „Sobald der arkane Prozess initiiert wurde und man eine Bindung mit der neuen Essenz geknüpft hat, kann man diese beliebig kontrollieren. Ähnlich wie bei einer Öllampe kann man durch Luftzufuhr die Flamme ersticken oder speisen, die Hitze kontrollieren oder den Lichtkegel erweitern. So konnte ich eben mit einer erzeugten Feueressenz meinen Körper von Flammen umspielen lassen, ohne mich oder meine Kleider zu versengen. Danke für euer Staunen und viel Glück bei euren ersten Versuchen!“
Folgend auf einen kurzen Knicks stolzierte sie zurück zu ihrem Platz neben dem Fenster. Ihr Blick war dabei gleichmütig nach vorn gerichtet und bedachte nicht die sitzenden Mitschüler. Angekommen taxierte Iona Frau Dessort, die sich wieder in die Mitte stellte. Ionas Ausführung war eingehend und einwandfrei gewesen, sodass sie ein gezwungenes, lobendes Nicken erntete. Die Genugtuung in ihr wuchs und desinteressiert wand sie den Blick wieder aus dem Fenster. Die Nebelkrähe war verflogen. Ein leichter Verdruss überkam sie, denn nun würde sie nie erfahren, was der Vogel auf dem Ast gewollt hatte. Sie hatte sich für die Aufmerksamkeit und Wertschätzung der anderen entschieden, obwohl es sie in Wirklichkeit gar nicht kümmerte. Die Genugtuung verflog und Iona rügte sich selbst: Bleib konzentriert und verliere dich nicht in Belanglosigkeiten, sonst bist du nicht besser als deine Mitschüler!
Frau Dessort schaute auf Iona Deym, die gedankenversunken aus dem Fenster starrte. Fast alle Hände waren schlagartig in die Luft geschossen, als sie die verhängnisvolle Frage gestellt hatte, ob es Unklarheiten gibt. Innerlich empfand sie eine Mischung aus Bewunderung und Abneigung für Iona. Das Mädchen war so schlau und würde es weit bringen mit ihrem Ehrgeiz. Doch ihre Macht würde mit Einsamkeit und Kälte einhergehen. Am Abend würde sie eine Versetzung empfehlen, sodass sie unter älteren Schülern einen fortgeschritteneren Unterricht besucht. Die Grundlagen, die die Kinder hier lernen, würden sie nicht ausreichend fördern. Nur allzu gut wusste sie selbst, dass Iona Niederlagen erleben musste, um zu reifen. So war es bei ihr damals auch gewesen.
Zeit: 240 NZ; Ort: Schwarze Sande, Slipton
Erneut saß Saphirus erfolglos und halb betrunken in der Taverne Glücksfund in Slipton. Sein neuer Freund, Letus Heidenfreud, betrat indes die Schänke und gesellte sich mit einer vollen Karaffe gegorener Dattelmilch zu ihm. Nach dem Eingießen sagt er aufgesetzt spöttisch: „Anscheinend hast du deine Ziele erreicht und damit unsere Wette gewonnen. Denn andernfalls müsstest du mir nach nunmehr zwei Wochen der gemeinsamen Zecherei mal endlich von deiner Vergangenheit und deinen Absichten erzählen!“
Niedergeschlagen füllte sich Saphirus den einfachen Holzkrug wieder auf, belächelte kurz sein Spiegelbild auf der milchigen Oberfläche des süßen Getränks, bevor er zur Antwort ansetzte: „Ach Letus, mein Freund, das Schicksal prüft mich Tag für Tag und Nacht um Nacht. Wie mein alter Herr schon sagte: Einsicht ist der erste Schritt und Weitsicht der Zweite! Daher werde ich auch weiterhin nicht aufgeben.“ Theatralisch hob er seinen Becher und genoss einen ordentlichen Schluck der süßen Versuchung, während sein Freund amüsiert mit dem Kopf schüttelte.
„Meinst du nicht, der Spruch lautet anders“, sagte er kleinlaut, ehe er von Saphirus vehement unterbrochen wurde: „Aufgewachsen bin ich am anderen Ende des Aenoischen Reiches in dem kleinen Bauerndorf Weitweide. Mein Vater ist ein angesehener Ordensritter, der sich dem Schutz des Dorfes verschrieben hat. Nachdem mein Zwillingsbruder, Rubein, und ich in den landwirtschaftlichen Arbeiten ausgebildet worden waren, schickte unser Vater uns letztes Jahr nach Arudion zur Ritterschule“, dabei stahl sich ein verschmitztes Lächeln auf seine Lippen. Er besann sich zurück an jene Tage. Im Laufe von wenigen Wochen stiegen das Ansehen und der Eifer seines Bruders mit den einhergehenden Erfolgen, demgegenüber er jedes Fettnäpfchen mitgenommen hatte, das sich ihm aufgetan hat. Seine fruchtlose Karriere endete schier, als er mit einigen Kameraden ein entferntes Freudenhaus besuchte. Eine attraktive, maskierte Tänzerin mit dem Spitznamen Vita hatte es ihm besonders angetan, jedoch entpuppte sie sich als Frau ihres Ausbilders. Es brauchte keinen messerscharfen Verstand, um die ihm angebotene Seereise ans andere Ende des Reiches anzunehmen. Jede sonstige Entscheidung hätte ihn mehr gekostet als nur die Missgunst in der Familie. Zum Ritter war er sowieso nicht ersonnen und immerhin hatte das bittere Schicksal zum Ende einen süßen Beigeschmack gehabt.
„Es stellte sich heraus, dass mein Verstand meinem Schwertarm überlegen ist. Und wie heißt es so schön: Der Klügere gibt auf! Also entzweiten Rubein und ich uns unter Tränen und versprachen einander unser Glück getrennt voneinander zu finden“, um nicht selbst loszulachen, trank er einen bekümmert wirkenden Schluck. Tatsächlich hatte er nur ein paar karge Abschiedsworte auf einem Pergamentfetzen verfasst, bevor er das Weite gesucht hatte. „Das nächste halbe Jahr versuchte ich mich selbst zu finden und zu verwirklichen. Anfangs begab ich mich daher zu Gyldsam, der Fischerstadt nahe Aenaien, und fing als Verkäufer in einem obskuren Krämerladen an. Meine außergewöhnliche Auffassungsgabe erbrachte mir einen erheblichen Vorteil, sodass ich sogar zum besten Mitarbeiter der Saison ernannt wurde.“
„Heißt es nicht nach?“ Die Frage zeigte ihm, wie gefesselt sein Freund zuhörte. „Dann eben nach Gyldsam. Jetzt lass mal die Früchte auf der Torte!“ Letus war ihm ans Herz gewachsen. Er war ein einfältiger, aber gutmütiger, Mensch. Saphirus konnte förmlich seine Gedanken lesen, wie er ihn anhimmelte und beneidete. Faktisch hatte er im letzten Jahr mehr erreicht und gesehen, als die meisten aus seinem Dorf es jemals würden. Unverhohlen korrigierte er das Wort ‚erreicht‘ zu ‚erlebt‘ und dachte an den Krämerladen zurück. Johann hieß der alte Ladenbesitzer, der sich überaus dankbar für die angebotene Verkaufshilfe gab. Die Entlohnung war zwar spärlich, doch versprach er ihm einen Handelsbrief nach einer akzeptablen Lehrzeit. Vor wenigen Wochen kam jedoch ein skurriler Interessent in den Laden. Seine Aufmerksamkeit galt den Artefakten aus dem Aenos-See, die hin und wieder aus den versunkenen Ruinen geborgen wurden und in Umlauf gerieten. Er erzählte Saphirus von der geheimen Akademie der arkanen Künste in Slipton, die sich vor allem mit Täuschungen und Geheimnissen beschäftigte. Fasziniert hatte er den Worten des Fremden Gehör geschenkt, nur um danach festzustellen, dass drei altertümliche Relikte verschwunden waren. Die Unkosten, die während seiner Schicht entstanden sind, hätte er nie im Leben begleichen können, also traf er eine schnelle Entscheidung. Da es Hut wie Hose war, ob nun drei oder vier Gegenstände fehlten, packte er seine Sachen und bezahlte die Schifffahrt nach Slipton mit einem weiteren Artefakt.
Glücklicherweise musste er ja nicht alles seinem naiven Freund erzählen und entschied sich, ein paar Details zu überspringen: „Für den ehrbaren Beruf als Verkäufer bin ich einfach überqualifiziert, sodass ich mich per Seereise hierher aufgemacht habe. Von spitzen Zungen ist mir zu Ohren gekommen, dass es in dieser Stadt eine verborgene Akademie der arkanen Künste geben soll“, neuer Mut keimte in ihm auf, als er wieder das erstaunte Stirnrunzeln seines Gegenübers beobachtete. „Nun kennst du den Grund meiner Ankunft. Die letzten Tage habe ich damit verbracht Informationen einzuholen und die Aufmerksamkeit der Akademie zu gewinnen.“ Den Rest der Geschichte kannte Letus bereits, da er eben diesen am dritten Tag hier im Glücksfund angetroffen hatte. Damals hatte Saphirus einige Getränke ausgegeben und dabei auf weitere Hinweise von Leuten gehofft, die sich schon länger in der Stadt herumtreiben. Seitdem hatten sie sich immer wieder zufällig hier getroffen und bei einem Bier oder gegorener Dattelmilch die Missstände der letzten Tage aufgetischt.
Bedächtig teilte sein Freund die Reste der Karaffe unter ihren beiden Krügen auf. Saphirus war sich sicher, dass es Letus die Sprache verschlagen hatte und er erst einmal seine Gedanken sortieren musste. Einfältige Leute konnte er schon immer gut manipulieren und beeindrucken. Bisher hatte er seine Ziele für sich behalten, jedoch hatte er gestern im Übermut eine Wette abgeschlossen. Natürlich hatte sich am heutigen Tag niemand von der Akademie bei ihm gemeldet oder ein Zeichen geschickt. Behutsam blickte er sich noch einmal im Schankraum um, vielleicht wurde er ja grade jetzt beobachtet. Einige Blicke traf er zwar, jedoch wirkte keiner darunter verdächtig. Vom vielen Alkohol war ihm aber auch schon ein wenig schwummerig. Heute hatte er besonders früh aufgegeben und sich zur Taverne begeben. Immerhin verdiente er sich jeden Tag einige Groschen, ob nun als Marktschreier, laienhafter Barde, aushelfender Verkäufer oder orientierungsloser Bote. Ein Mann mit seinen zahlreichen Talenten kam halt immer über die Runden.
Vor einigen Tagen hatte ihm eine durchreisende Trickkünstlerin sogar einen ihrer magischen Künste gelehrt. Nach einem Dutzend Übungsstunden und mindestens doppelt so vieler Fehlschläge, hatte er eine arkane Fähigkeit gemeistert: das Ändern seiner Augenfarbe. Ein schwieriges Unterfangen, dass ihm immense Konzentration und Mut abverlangte. Er hatte für sich selbst erkannt, dass es besser funktionierte, wenn er etwas Flüssigkeit in seinen gefalteten Handflächen hielt. Sein Ausbilder hatte damals schon immer gelehrt: Stille Wasser spiegeln dich! Und so war es auch, denn während sein Spiegelbild verging und die Flüssigkeit verschwand, wechselten seine Augen in die gewünschte Farbe.
Unerwartet lehnte sich Letus zu ihm herüber und flüsterte: „Ich hätte ja erwartet, dass eine verborgene Akademie auf Diskretion und Verschwiegenheit aufbaut und eben diese Werte schätzt. Oder um es mit deinen Weisheiten zu sagen: Manchmal gehört ein blindes Huhn einfach in die Suppe!“
Mit einem überschwänglichen Prusten verteilte Saphirus etwas Dattelmilch über Letus Lumpen. Genau deswegen hatte sein Trinkkumpan keine Ahnung vom Leben oder dem Ablauf in einer Stadt. Wie er selbst schon so oft erkannt hatte, reichte es selten, nur um eine Ecke zu denken. Sein naiver Freund konnte nicht anders, als auf das Offensichtliche hereinfallen. Etwas erheitert erwiderte er: „Keine Sorge, ich weiß genau, was ich tue! Aber den Spruch kannte ich noch nicht. Man spürt direkt eine tiefe Weisheit darin. Hast du ihn von deiner Mutter?“
Ein bestätigendes Kopfschütteln von Letus offenbarte ihm seine Überlegenheit und gemeinsam prosteten sie einander zu. Sein neugewonnener Freund hatte noch viel von ihm zu lernen, aber er würde sicherlich das ein oder andere Mal von Wert sein. Gut beschwipst stand Saphirus auf und suchte seine bescheidene Kammer im Nachbarhaus auf. Morgen würde sich ihm eine neue Gelegenheit bieten. Er war zu einem hohen Adligen der schwarzen Sande eingeladen. Ob er nun endlich lukrative Informationen erhielt oder einen gut bezahlten Auftrag bekam, in beiden Fällen wäre der nächste Tag ergiebig. So sank er auf sein Bett und fiel den wirren Träumen seines Rausches anheim, wie er die Welt bereiste und seine vielfältigen Talente unter Beweis stellte. Er war halt ein Träumer.
Zeit: 152 NZ; Ort: Vjorda
Zwei Tage war der vierköpfige Jagdtrupp der Vjordaner unter der Führung von Siggo durch die eisige Schneelandschaft gereist. Die Vjorda war eine tödliche und erbarmungslose Eiswüste, die von unsteten Stürmen und bitterer Kälte heimgesucht wurde. Doch trotz ihrer Gefahren kannte Siggo die Schönheit im ausgedehnten Weiß seiner Heimat: Die weiten Ebenen, kleinen Hügel, schroffen Erhebungen und der schützende Gebirgsring bildeten immer wieder eindrucksvolle Formationen. Manche erkannten darin Giganten, andere versteinerte Drachen oder Fassaden von riesigen Bauwerken. Wenn leichte Brisen den frischen Neuschnee verwirbelten, erwachten die Gespinste zum Leben und erzählten atemberaubende Geschichten.
Die Worte seines Sohnes, Manu, holten Siggo aus seiner Faszination: „Warum entfernen wir uns von den Spuren? Ein ganzes Rudel von Schneekatzen muss hier in der Nähe sein.“ Unbeabsichtigt schmunzelte sein Vater und dachte zurück an seine erste Jagd. Er war damals genauso unbeholfen und rastlos aufgetreten. Belehrend klopfte er ihm auf die Schulter und erklärte: „Die Vjorda hat ihre eigenen Regeln. Jedes Wesen hier, egal ob Mensch, Elementar oder Tier, achtet diese, lebt und stirbt danach.“
Er wusste, dass Manu die Prinzipien kannte, aber bei seiner ersten Jagd verstand man eben noch nicht alles. Da sie Zeit hatten, erzählte Siggo erneut vom Kreislauf des Lebens. Die Vjordaner und Wildtiere brauchten einander, um in der eisigen Einöde zu überleben. Deshalb war eines der wichtigsten Gesetze: Trete einem Heim stets in Friede und Demut entgegen. Das ungeschriebene Gebot galt dabei für alle Lebewesen und wurde meist geachtet. Für jedes Geschöpf kam der Tag, seiner ersten Jagd, und irgendwann einmal seine Letzte. Denn wer nichts mehr zur Gemeinschaft beitragen konnte, hatte seinen Wert verloren.
Sein Vortrag endete mit der wiederholten Frage, die jedem jungen Jäger eingebläut werden musste: „Was sind die Leiteigenschaften für eine erfolgreiche Jagd?“
Vorbereitet schoss die Antwort aus seinem Sohn heraus: „Beharrlichkeit, Mut und Entschlossenheit.“
Stolz nickte Siggo und wusste, dass er zwar die Worte kannte, jedoch nicht deren wahre Bedeutung. An der Beherztheit würde es Manu nicht mangeln, aber in der Vjorda musste ein guter Jäger eine innere Ruhe aufbringen. Sein Blick schweifte ab zu Tira, eine der besten Fährtenleserinnen seines Klans, die einen Richtungswechsel vorschlug. Sie und ihr Bruder, Osca, komplettierten den Jagdtrupp. Siegesgewiss verglich Siggo seine Lederkette, die die Enden des Beute-Vlieses verband, mit denen der Geschwister. Für einen tödlichen Treffer bei einer Jagd erhielt man eine Klaue oder einen Zahn als Trophäe für sein Lederband. Er hatte mehr Siegeszeichen als beide zusammen angesammelt. Stets konnte er sich auf seine Instinkte verlassen. Auch bei dieser Jagd würden sie ihm gute Dienste bringen. Bald sollten sie eine geeignete Stelle für die Lauer wählen und der Kälte harren, ehe ein würdiges Ziel in die Falle tappen würde. Manchmal lag man tagelang unter Eis und Schnee begraben. Siggos einzige Sorgen beruhten auf Manu, ob er dem kühlen Grab trotzen würde.
Knapp anderthalb Umläufe waren verstrichen, seit Siggo sich für eine passende Stelle zur Lauer entschieden hatte. Wie üblich hatten sie sich in einer Sichelformation im Schnee eingegraben und widerstanden nun den dem schleichenden Tod. Einem normalen Menschen, der nicht aus der Vjorda kam, wäre schon nach wenigen Stunden der Kältetod widerfahren. Doch die Körper der Vjordaner haben sich seit Generationen den widrigen Umständen angepasst: Ihre Haut war blass bläulich, ihre Herzfrequenz niedrig und ihre Körpertemperatur gesenkt. Mit viel Training konnte man Fähigkeiten von den Eiselementaren erlernen, eins mit dem Schnee zu werden. Siggo hatte diese Befähigung bereits gemeistert. Während sein Körper beinah in einem Winterschlaf verharrte, waren seine Sinne mit der Umgebung verbunden: Der sanfte Wind auf der Schneedecke, die ihn umgab. Das zögerliche Pochen der Herzen in seiner Nähe. Das einfallende, warme Licht auf den weißen Weiten der Vjorda.
Besonders Manus Puls ließ er nicht aus dem Sinn gleiten. Er hatte seinem Sohn seit Jahren ein hartes Training auferlegt, um ihn auf die Widrigkeiten vorzubereiten. Zweifel durften seinen Verstand nicht plagen, denn sein Trupp verließ sich auf ihn. Beharrlichkeit, Mut und Entschlossenheit waren die Ideale, die er sich in Gedanken zurückrief. Besonnen tasteten seine Sinne wieder das Umland ab. Ein mulmiges Gefühl keimte in ihm auf und er fühlte die Anspannung in seinem Körper wachsen. Etwas stimmt hier nicht! Fuhr es Siggo durch den Kopf. Die Spuren der Schneekatzen lassen auf einen nahen Bau schließen, dennoch ist keiner ihrer Jäger hier vorbei gekommen. Verdammt, wir sind die Beute!
Gerade noch rechtzeitig hatte Siggo die Warnung ausgesprochen, um seine Leute aus der Starre und ihrem frostigen Gefängnis zu reißen. Geschult formierte sich der kleine Trupp auf der Schneefläche, die Speere gezückt und die Umgebung im Blick. Eine große Schneewehe kam rasant auf sie zu und Siggo wusste, womit sie in wenigen Augenblicken konfrontiert wurden. Ein Utahreis näherte sich ihnen: Ein gefährlicher Jäger, der durch den Schnee wie Wasser gleiten konnte. Sie erreichten einen Spann von bis zu vier gestandenen Männern. Ihre Krallen rissen sogar die dicke Haut von Mammuts in Stücke. Flügelartige Gebilde an Schwanz und Armen sorgten für die rasanten Gleitbewegungen im lockeren Schnee und eine enorme Wendigkeit. Die lange Schnauze war von einem Chitin-Panzer überzogen, die sogar Steine auf ihren Weg zermalmte. Obwohl sie miserabele Augen und keine Ohren besaßen, nahmen sie kleinste Bewegungen auf oder im Schnee wahr. Die älteren Utahreis hatten über die Jahre harten Schuppengeflechten auf ihrer Bauchseite gebildet, die für ihre Waffen kaum zu durchdringen waren. Ihr Rücken war ihre einzige brauchbare Schwachstelle. Da dieser meist nur losen Neuschnee und Kälte widerstehen musste, war er weich und von Fett durchzogen. Ein geübter Stich mit dem Speer bis hin zum Herzen war ihre beste Option.
Siggo befahl, die Aufstellung zu ändern. Tira und Manu nahmen eine verteidigende Haltung ein, während sich Osca in eine gebückte Position begab. Sie hatten nur einen effektiven Versuch, um einen schnellen Sieg zu ergattern. Siggo musste mit Oscas Hilfe über seinen Gegner kommen und im richtigen Moment seine Kraft fokussieren, um den tödlichen Stich zu setzen. Jetzt! Er rannte los, den anstürmenden Schneewehen entgegen. Sein Feind würde jeden seiner entschlossenen Tritte spüren. Energisch sprang er auf Oscas Rücken, der wiederum so schnell wie ein Pfeil nach oben schreckte. Zeitgleich tat sich der Schneehaufen auf und die Klauen des tödlichen Reptils brachen daraus hervor. Wie erhofft, zielte die Flugbahn des Untiers auf seine Gefährten am Boden ab. Sein Plan ging auf, als er über seinen Widersacher flog. Mit aller Kraft stieß Siggo den Speer tief in den ungeschützten Rücken. Wild kreischte der Utahreis auf und ungehalten zuckten seine Klauen um sich. Zum lauten Geschrei des Feindes mischten sich Schmerzensschreie seiner Kameraden, bevor er benommen in die gegenüberliegende Schneewehe brach.
Ebenso wie er sich überschlagen hatte, wirrten seine Gedanken umher: Schreie, Blut! Muss ihnen helfen. Wo geht es raus? Der Schnee hatte Siggo nicht so sanft aufgefangen, wie er erhofft hatte. Sein Flug hatte ihn direkt in den Gleittunnel seines Feindes schlagen lassen. Sein Kopf pochte, doch er musste sich konzentrieren. Langsam schaffte er es, seinen Puls zu senken und den Schnee um sich wahrzunehmen. Blut tropfte aus seiner Nase. Das heiße Quellwasser, das sein Klan als Katalysator nutzte, war bereits aufgebraucht. Alle Risiken missachtend, verband er seine Essenz weiter mit dem Land und fand seine Orientierung wieder. Seine Kameraden waren noch am Leben, ebenso hatte er den Herzschlag seines Feindes vernommen.
Beschwerlich grub er sich frei und pfeilte indessen an einem fortführenden Plan. Immer wieder verspürte er, die Ohnmacht in ihm aufkommen. Nur noch ein kleines Stück und ich kann sie retten! Endlich streckte er den Kopf den kalten Winden entgegen und besah die Szenerie. Der Speer steckte etwas zu weit hinten im massigen Leib der Bestie. Das Herz musste er verfehlt haben, auch wenn die tiefe Wunde seinem Gegner stark belastete. Osca hatte eine Klaue derbe erwischt und ein schlimmer Riss zeichnete seine Brust. Während sich Tira mit leichten Schnitten schützend vor ihren Bruder stellte, konfrontierte Manu mutig den Utahreis. Siggo war zu schwach, um lautstark zu rufen und Befehle zu erteilen. Halb gefangen im Schnee und eher weniger Herr über seine verbliebenden Kräfte, musste er dem Duell beiwohnen.
Beherzt stürmte Manu auf seinen Kontrahenten zu und nahm einen tiefen Schnitt auf seinen linken Oberarm in Kauf, um sich rechts vorbei zu winden. Sein Arm war kaum noch nützlich und ungeachtet ließ er seine Waffe fallen. Dann sprang er wohlüberlegt auf den gebeugten Hinterlauf des Reptils, um in einer fließenden Bewegung hochzuspringen und den Speerschaft seines Vaters mit der Rechten zu greifen. Der Schmerz und die einseitige Belastung reichten aus, um den Utahreis zu Fall zu bringen. Machtlos sah Siggo zu, wie Manu unter dem stürzenden Ungetüm begraben wurde. Zeitgleich eilte Tira los und rammte nur wenige Atemzüge später dem Feind ihren Speer durchs Herz. Der Kampf war geschlagen. Ein letztes Mal konzentrierte sich Siggo auf seine Umgebung. Ein Herzschlag! Lächelnd ließ er sich von der anbahnenden Ohnmacht umgarnen, bevor das Weiß zu Schwarz wurde.
Zeit: 202 NZ; Ort: Grifthall, Tuorisches Reich
Ein kühler erdiger Luftzug umspielte Tristayas Haare. Lichter, so zahlreich wie die Sterne, strahlten, funkelten und glitzerten, wo man auch hinsah. Die riesigen Kristalle auf den großen Plätzen und den weitläufigen Decken wurden durch umgelenkte Lichtstrahlen durchflutet und erleuchteten somit weite Teile der Höhlen. Überall hallte ein Hämmern, Klacken, Klirren, Rasseln oder Dröhnen durch die Hallen.
Tristaya stand auf einer hoch gelegenen Terrasse ihres Gasthauses und bestaunte die Eigenheiten der tuorischen Stadt. Sie war zum ersten Mal zu Besuch im Reich des Fotinos Plateaus. Ihre Faszination stieg mit jedem neuen Eindruck. Sie bewunderte die mechanischen und arkanen Errungenschaften des Landes. Auf ganz Artamis war der Erfinderreichtum der Tuorier bekannt und geachtet. Selbst das majestätische Aenoische Reich bediente sich einiger erworbene Apparaturen.
Die Großstadt Grifthall erstreckte sich über viele Höhenlagen in der weitläufigen Kaverne. Tristaya stand an der Balustrade der höchsten Ebenen und konnte so auf die Tieferen herabblicken. Aufzüge, die durch umgelenkte Wasserbahnen betrieben wurden, transportierten Waren oder Personen senkrecht empor und hinab. Leitschienen windeten sich durch die Freiräume und beförderten Güter auf Schienen-Last-Wagen, kurz Salwen, in Windeseile von einem Ende der Höhle zum anderen. Der ganze Alltag der Tuorier kam ihr übermäßig produktiv und koordiniert gesteuert vor. Aus ihrem Heimatland kannte sie ein solches Tempo nicht, das wiederum durch den allgemeinen Gleichtakt flüssig und keinesfalls hektisch wirkte. Zuhause lehrten die Bauern und Seeleute Geduld und Achtsamkeit. Schließlich konnte man den Fisch nicht zwingen, den Köder zu schlucken, oder das Gemüse antreiben, schneller zu wachsen.
Gedankenverloren spielte Tristaya mit dem kleinen Funkelstein ihrer Kette. Ihr Vater war ein Baumeister und besuchte damals das Tuorische Reich, um seine Kenntnisse zu erweitern. Als Mitbringsel hatte er ihr den Anhänger geschenkt, der einfallendes Licht vielfach brechen konnte und hell erstrahlte. Seitdem hatte sie sich vorgenommen, selbst einmal hierhin zu reisen. Dafür hatte sie die letzten Jahre stets einen kleinen Teil ihres Erwerbs aufgespart. Ihr Ziel war es, mit ihrem besten Freund Saray alle großen Städte des Reiches zu besuchen. Grifthall war bereits ihr zweites Reiseziel, aber unterschied sich in vielen Belangen von Hexal. Hier war man wahrlich im Herzen des Berges angekommen. Einer der Aufzüge sollte sogar zur Oberfläche führen, wo Vieh- und Landwirtschaft betrieben wurde. Saray stammte von einer Bauernfamilie ab und wollte daher auch die hier üblichen Zuchtmethoden begutachten. Ihr Freund war gerade im Schankraum damit beschäftigt ein hiesiges Glücksspiel zu erlernen. Wahrscheinlich hat er gleich die Hälfte seiner Reisekasse verzockt. Sollte ich mal nach ihm sehen?
Gerade als sie sich wieder dem Gasthaus zuwenden wollte, wurde Tristaya an den Schultern gepackt. „Hab dich!“, erklang die Stimme ihres Freundes. Erschrocken fuhr sie herum und bemerkte kaum, wie ihr Anhänger sich versehentlich von der Kette löste. Langsam kullerte der geschliffene Stein an der Balustrade entlang. Zu hastig wollte sie den Funkelstein greifen, doch bewirkte sie das Gegenteil. Mit Entsetzen konnte sie nur noch den Sturz ihres Glücksbringers verfolgen. Wie versteinerte blickte sie dem Kleinod nach und verlor ihn in den Tiefen der Halle.
„Keine Sorge, ich kaufe dir morgen einen Neuen als Andenken“, sprach Saray aufmunternd. Ein aufgesetztes Lächeln überspielte ihren Unmut, doch sich selbst konnte sie nicht täuschen. Deutlich spürte sie eine dumpfe Trauer und impulsiven Groll aufkeimen. Ihr Freund verstand sie oft nicht. Für ihn war alles austauschbar, ohne ideellen Wert und Bedeutung. Seine Denkweise war simpel, praktisch, gar unbekümmert. Tristaya war das genaue Gegenstück zu ihrem Kindheitsfreund. Sie knüpfte unbewusst ein imaginäres Band zu Personen oder Objekten. Mit jedem Erlebnis, Gefühl und Wunsch wuchs diese Verbindung und wurde intensiver. Mit ihrem Stein war auch ein Teil ihrer selbst hinab gefallen, den kein anderer ersetzen könnte. Der Gedanke, dass alles einen tieferen Sinn hatte und miteinander verbunden war, besänftigte ihr Gemüt. Das Geschenk ihres Vaters war zwar in all den Jahren zu ihrem Glücksbringer geworden, doch verkörperte er gleichzeitig auch den Traum die tuorischen Städte zu besuchen. Somit hatte ihr Anhänger seinen eigentlichen Zweck erfüllt. Nach ihrer Reise würde sich Tristaya neuen Zielen widmen und ein unbewusstes, finales Lächeln stahl sich auf ihre leicht geröteten Wangen. Sie hatte gar nicht wahrgenommen, wie er sie bei der Hand genommen hatte. Mit verwirrtem Blick fragte er: „Alles in Ordnung mit dir?“
Zeit: -53 NZ; Ort: Aodhan, späteres Aschenland, Aedar
Diese Narren! Sie haben keine Vorstellungskraft, keine Ambitionen, keine Zukunft! Orayus stand allein an dem großen Granittisch in seiner Halle. Verkrustetes Blut klebte auf seinem Körper und zierte seine Gewänder. Dieser Krieg war eine Zumutung, die er sich selbst zuzuschreiben hatte. Er war unachtsam geworden und hatte die Neugier seiner Gemahlin unterschätzt. Alle Pläne, die er Jahrzehnte lang vorbereitet hatte, waren gefährdet.
Wutentbrannt schlug er mit der Faust auf den Tisch und hinterließ eine grobe Delle im Granit. Hass und Ungeduld pulsierten in seinen Adern. Der andauernde Krieg und das Chaos in Aodhan, dem Reich Alfaniirs, waren mittlerweile auch auf ihn übergegangen. Eine innere Unruhe hatte sich bemerkbar gemacht, die ihn selbst auf das Schlachtfeld trieb. Hier zu planen und zu warten, missfiel ihm aufs Äußerste. Eine Person musste einen kühlen Kopf bewahren und sich als Stratege behaupten. Seine Lage war verfahren, dessen war er sich durchaus bewusst. Seine Aufmerksamkeit galt nun der Schadensbegrenzung.
Die gusseiserne Flügeltür wurde aufgestoßen und sein Bruder Vanadis, der Avatar des Feuers, betrat die Versammlungshalle. Seine festen Tritte hallten durch die Weiten des Raumes und hinterließen rußige Abdrücke am Boden. Seine schwere dunkle Plattenrüstung wirkte bedrohlich. Ein leichtes Flimmern der umliegenden Luft zeugte von der abgesonderten Hitze, die keine schmähenden Blutflecken auf der Panzerung erlaubte.
„Sie haben die Mauer in Richtung Gaeon durchbrochen! Die restlichen Segmente werden bald folgen. Unsere Stellung ist verloren!“ Anklagend wirkten die Worte von Vanadis auf Orayus. Wie viele Jahre der Krieg in seinem Land angedauert hatte, vermochte er nicht mehr zu sagen. Die Ländereien waren verwüstet, blutdurchtränkt oder von Asche bedeckt. Alfaniir, sein Schöpfer, und die anderen Vinalii schienen davon wenig gestört. Sie hausierten in Milida’an und bedachten teilnahmslos mögliche Ausgänge. Wahrscheinlich sind ihre Erschaffer gar amüsiert und setzen Wetten auf das Ergebnis dieses Krieges.
„Zieh dich zurück, Vanadis! Deine Aufgabe hier ist erledigt. Auf mich wartet noch ein fatales Treffen mit meiner Gemahlin. Sie kennt unsere Pläne und ist somit ein inakzeptables Risiko!“ Orayus spürte die Nähe seiner Gattin und ihre eiserne Entschlossenheit. Sein Bruder wiederum wirkte erbost über den Befehl zum Rückzug. Er war einfach zu kurzsichtig, um das Ausmaß seiner Pläne zu verstehen.
Ein leichtes Kribbeln im Nacken und ein kurzer Schauer überkamen ihn. Es war ein Gefühl von Anspannung, gar ein Quäntchen Furcht, die sich von seinem Herzen bis in seine Glieder ausbreitete. Er hasste dieses aufkeimende Empfinden. Sie kommt näher! Impulsiv stieß er einen Wutschrei aus und zertrümmerte das Tischstück, welches bereits eingedellt war, mit einem weiteren Schlag. Erschrocken und leicht eingeschüchtert verließ Vanadis den Saal zur äußeren Empore, ohne ein Widerwort zu wagen. Immerhin gehorchte sein Bruder, der unersetzlich für sein großes Vorhaben, Projekt Pyroklast, war.
Langsam fasste sich Orayus wieder und wand sich der halb offenen Gusstür zu. In Hinsicht auf Strategie und Kampfkunst war er seiner Gattin überlegen. Er musste sie zum Schweigen bringen. Eine solche Auseinandersetzung hatte er nie füreinander gewollt. Trotz ihrer Differenzen bestand der ewige Bund zwischen ihnen, wodurch er auch ihren Kummer verspürte. Behutsam griff er nach dem Bruchstück des Granits und besah die willkürliche Entzweiung des Tisches. Die leidenschaftlichen Erinnerungen vergangener Tage bahnten sich in sein Gemüt und er ließ sie ein letztes Mal gewähren. Wie oft waren sie zu zweit den Pflichten entflohen? Wie viele gemeinsame Augenblicke hatten sie in den entlegensten Ecken Artamis genossen? Es war ihre Sorglosigkeit und ihr Frohsinn, die ihn immer wieder animierten. Er hatte ihre Sichtweise stets bewundert, obwohl sein Charakter kaum gegensätzlicher sein konnte. Dabei hatte er Iraya gern mit einem Regenbogen verglichen: so fantastisch und inspirierend, doch nicht zu halten und schwer zu binden.
Eine Träne rann seine Wange herab und vermengte sich mit dem Ruß und vertrocknetem Blut, während das Bruchstück immer poröser wurde. Langsam wich der Kummer dem Zorn. Der Groll war gegen die Vinalii, Artamis und sich selbst gerichtet. Er würde der Welt ihren Regenbogen berauben. Am Ende war es doch nur eine Illusion, die den kalten Regen mit Farben verschleiert. Als die schwarze Blutträne zu Boden fiel, zerbrach er die Überreste des Granits und eine immense Macht durchströmte ihn. Er war bereit!
Zeit: -53 NZ; Ort: Aodhan, späteres Aschenland, Aedar
Evrard Duenwar presste einen verkrusteten Handschuh auf die offene Halswunde von Lakim und versuchte, ihn mit tröstenden Worten beizustehen. Sein Kamerad hatte einen brutalen Schlag von Orayus abbekommen, der ihn mit enormer Wucht gegen den Granittisch geschleudert hatte. Das Brechen von Knochen hatte man im ganzen Saal vernommen, während die Bruchkante des Tisches die rechte Hälfte des Halses aufgerissen hatte.
Sie beide waren die letzten Überlebenden eines elitären Stoßtrupps. Er hatte als Kommandant der Gaeon-Front seine fähigsten Gefolgsleute versammelt und einen Ausfall zum Palast gewagt. Sie hatten das Hauptgebäude unbewacht vorgefunden und daher dieses bis zum Thronsaal erkundet.
Sein Blick schweifte zu Aminas geschundenen Leichnam, der mitten im Kampf zwischen Orayus und Iraya lag. Der Körper seiner Kameradin wurde von den Avataren lediglich als taktische Stolperfalle gewürdigt. Die schweren Tritte hatten ihr Antlitz bereits zur Unkenntlichkeit verwüstet. Sie war zuerst in den Saal gestürmt, um der unterlegenen Avatarin beizustehen. Schon beim Ansturm hatte sie ihre Waffe losgelassen und ihre Geschwindigkeit verringert, wie von einer unsichtbaren Macht gebremst, nur um keine zwei Ellen vor Orayus leblos zu Boden zu fallen. Ihr Angriff wurde im Keim erstickt. Wir werden alle hier sterben. Was sollen einfache Menschen schon gegen Avatare und ihre Mächte ausrichten? Seine demoralisierten Gedanken zerrten an dem letzten Funken Mut, den er noch besaß.
Ein leises Röcheln war von Lakim zu vernehmen und Evrard beugte sich tiefer zu seinen Lippen, um das schonende Gemurmel zu verstehen. „Hilf ... ihr! ... Für ... die ... Freiheit!“. Ein sanftes, ermutigendes Lächeln stahl sich auf seine Züge, bevor auch sein Blick verblasste. Behutsam schloss Evrard die Lider seines Kameraden und besann sich auf die ausweglose Situation. Er war nicht Kommandant geworden, um feige auf sein Ende zu warten. Mit verzweifelter Entschlossenheit richtete er sich auf und studierte das Kampfgeschehen. Im direkten Schlagabtausch mit einem Avatar vermochte er nichts bewirken, doch er war ein Stratege, ein Analyst und ein Anführer.
„Knaufschlag nachsetzen!“, rief er plötzlich befehlend und Iraya kam seiner Anweisung intuitiv nach. Der Schlag traf nur leicht, doch die Avatarin der Freiheit nutzte die gewonnene Lücke beim überraschten Gegner, um weiter nachzusetzen. „Ausweichschritt links und Konter!“, erneut verschafften Evrards Weisungen ihr einen taktischen Vorteil. Das ungleiche Gespann gewann in nur wenigen Angriffsfolgen die Oberhand und brachten den Avatar der Ordnung immer weiter in Bedrängnis. Man spürte förmlich den aufkeimenden Zorn von Orayus, der den Menschen kaum eine Beachtung erwiesen hatte. Nun fehlten ihm die Zeit und die Gelegenheit, sich dieses Problems zu entledigen. Jedes Zögern nutzte Iraya, um ihren Gemahl weiter in Richtung der äußeren Empore zu drängen.
„Deckung aufschlagen und nachsetzen!“, schrie Evrard und besah euphorisch den bangenden Ausdruck auf Orayus Gesicht. Die Avatarin entfesselte ihre Kraftreserven und durchbrach den kläglichen Block ihres Gegners. Die Zeit selbst schien gebannt und zerrte sich in eine dramatische Länge. Fassungslos starrten die Augen von Orayus seine Frau an, die wiederum mit einer gnadenlosen Entschlossenheit ihre linke Hand zu seiner Brust reckte. Ihre Rechte hatte sich vom Schwertgriff gelöst und hielt auf den weißen Quarz an ihrem Collier zu. Evrards Sinne waren wie gefesselt, die Intervalle zwischen seinen Herzschlägen zogen sich unerträglich lang. Dann erreichten Irayas Hände schließlich ihre Ziele und ein lauter Knall beendete die Verzerrung der Zeit. Eine Druckwelle ließ Orayus wanken und Blut spritzte aus einem Loch in seiner Brust. Wie von einer unsichtbaren Lanze durchbohrt taumelte er rückwärts Richtung Brüstung. Kein Mensch hätte eine solche Verwundung überlebt und selbst der Avatar sah seinem Ende entgegen, da war sich Evrard sicher. Dennoch ergriff Iraya wieder ihr Schwert und folgte langsam ihrem Feind, um den finalen Streich zu setzen.
Blut benetzte Evrards Stirn, während die Avatarin der Freiheit an ihm vorbei gegen den Granittisch geschleudert wurde. Der Sieg war zum Greifen nahe gewesen, doch das Blatt hatte sich auf entsetzliche Weise gewendet. Kurz bevor Iraya ihrem Widersacher den Gnadenstoß versetzen konnte, hatte sich Vanadis vom Dach des Gebäudes auf die ahnungslose Avatarin gestürzt. Sein überraschender Hieb traf sie mit einer Wucht, der sie brutal wieder in den Thronsaal schleuderte. In Evrard vermengten sich die Gefühle. Wo er eben noch ein triumphales Hochgefühl hatte, dehnte sich nun eine erbitterte Bestürzung aus. Vanadis, der Avatar des Feuers, galt selbst unter seinesgleichen als einer der besten Kämpfer. Iraya war zu geschwächt, um gegen einen weiteren Feind zu bestehen. Seine Aufmerksamkeit richtete sich zu Orayus, dessen Mine zwanghaft zwischen wütenden Stirnfalten und einem bitteren Lächeln wechselte. Er hielt seinem Blick stand und ein heller Pfiff entfuhr seinen Lippen. Nur ein Wimpernschlag später landeten die brachialen Krallen eines Wyvern neben dem Avatar. Seine Schuppen waren rotbraun und seine Statur und Kraft kamen der eines Bären gleich. Zwei kleine, rötlich schimmernde Hörner zierten sein Haupt. An seinem Hals erkannte Evrard ein Reitgeschirr und die Verzweiflung überkam ihn. „Elender Feigling!“, schrie er mit all seiner Wut hinaus, doch Orayus belächelte ihn nur, als er das Zaumzeug ergriff und sich mit dem Wyvern hinter die Balustrade schwang. Fassungslos gaben seine Beine nach und sank er zu Boden. Diese drastische Wendung der Ereignisse hatte er nicht erwartet. Die Kampfgeräusche, die Hitze und der Geruch von verbrannter Haut blendete er gänzlich aus. Ihr Vorhaben war gescheitert.
Ein naher Schrei erweckte ihn aus seiner Niedergeschlagenheit. Vanadis zog die geschlagene Iraya an den versengten Haaren in Richtung der Empore. Ihre bunten Flügel waren blutverschmiert und zuckten verkrampft, während ihr Schwertarm schlaff und verdreht zur Seite hing. Die einzige Gegenwehr, die die Avatarin noch aufbrachte, war ein belangloses Strampeln und unbeherrschte Schmerzensschreie. Der weiße Quarz an ihrem Collier fehlte und Evrard sprang auf, um hektisch nach dem Schmuckstein Ausschau zu halten. Ein weiteres Mal wurde ihm keine Beachtung geschenkt, was ihm durchaus gelegen kam. Seine Wahrnehmung war getrübt und immer wieder rissen Irayas Schreie seine Aufmerksamkeit auf sich. Vanadis hatte bereits die Außenfläche erreicht, deren Balustrade von den Klauen des Wyvern zu großen Teilen zerstört war. Der Stein entzog sich seinen Blicken und selbst der weiße Quarz konnte das Unausweichliche nun nicht mehr aufhalten, dessen war sich Evrard bewusst. Verhöhnend klärte diese Gewissheit seinen Verstand wieder auf. Er hörte nicht Vanadis Worte, spürte nicht den Schmerz seiner reißenden Glieder oder den eisernen Geschmack des Blutes in seinem Mund. Seine Beine setzten sich instinktiv in Bewegung und sämtliche Muskeln spannten sich an. In nur wenigen Herzschlägen war auch er auf die Empore geeilt.
Der Aufprall auf die dunkle Plattenrüstung war sengend heiß. Der Stoff seiner Rüstung verkohlte, die Haut brannte und die Knochen in seinen Armen brachen. Doch der überraschende Angriff erzielte die gewünschte Wirkung. Die Wucht reichte aus, um Vanadis aus dem Gleichgewicht zu bringen. Fluchend stürzte er mit seinen beiden Widersachern über die Kante der Empore und den Palasttreppen entgegen.
Evrards Körper fühlte sich wie eine zerquetschte Masse an und sein Sichtfeld war blutunterlaufen. Er versuchte zu atmen, aber die Luft blieb ihm versagt. Der getrübte Blick wanderte zu einer eingedellten Plattenrüstung. Ein winziges Gefühl von Hoffnung keimte in ihm auf, das er nicht recht zuzuweisen vermochte. Dann sah er, wie der eiserne Handschuh langsam eine Faust ballte. Sein unbestimmtes Empfinden wich schierer Wut und auch seine Finger krümmten sich. Er konnte den Grund für dieses Gefühl nicht mehr benennen. Es war belanglos. Mit dem Fallen seiner Lider nahm er noch eine funkelnde Speerspitze wahr, die in den dunklen Brustpanzer gestochen wurde. Dann entspannten sich ihre Finger.
Zeit: -51 NZ; Ort: Weidenster Felder, Nahe Arudion
Es war eine dunkle und stürmische Nacht inmitten des Laubfalls, der womöglich rausten Jahreszeit auf Artamis. Regen und Wind peitschten gegen die verschlossenen Läden der gemütlichen Kornkammer in der alten Seppers Mühle. Bauer Jörsten hatte vor einigen Jahren das Gut abgekauft und die Beschäftigten übernommen. An solch stürmischen Tagen lud er oft Freunde und Bekannte aus den nahen Gehöften ein, um bei selbstgebrauten Schnaps die Stimmung zu heben. Gemeinsam mit zwei anderen Bauern saß er an einem dezent schiefen Rundtisch auf gepolsterten Schemeln. Eine kleine abgedeckte Öllampe erhellte den sonst dunklen Raum. Offene Feuerstellen waren in der Kornkammer nicht angebracht und auch Pfeifen war hier untersagt.
Carsten, der die Angewohnheit hatte, ein angewärmtes Stück Burmitholz in sein Getränk zu tauchen, sprach mit bedrückter Stimme: „Heute kamen wieder ein paar Nachzügler aus Aodhan heim. Sie haben neue Listen mit Verstorbenen ausgehangen. Erschreckend, wie lange der Krieg noch nachwirkt! Jeden Tag werden weitere Tränen vergossen.“
Bedächtig hob Jörsten seinen Becher: „Auf die Gefallenen, sodass ihre Opfer und Taten nicht in Vergessenheit geraten!“. Andächtig teilten sie einige stille Momente des Schweigens. Die Schlachten wurden fernab ihrer Ländereien geschlagen, sodass sie die Schrecken selbst nicht miterlebt hatten.
„Das ganze Land ist nun eine dampfende und sengende Einöde. Feuer und Asche sollen vom Himmel gefallen sein, Risse in der Erde verschluckten die Toten und tödliche Dämpfe verfolgten die Fliehenden“, sprach Manni bestürzt aus. „Ich sage, die Vinalii haben ihre Vergeltung für diesen frevelhaften Krieg gebracht! Iraya und Orayus sind den heiligen Bund eingegangen und haben zuletzt mehr als ein Jahrhundert gegeneinander gekämpft! Natürlich müssen die Schöpfer bei solchen Verstößen eingreifen!“
Carsten rührte mit dem Holzstückchen in seinem Becher, während er behutsam seine Meinung abwog: „Womöglich geschah diese Katastrophe auch durch den Tod von Vanadis. Wir können nur erahnen, wie mächtig die Avatare sind. Bei ihrem Ableben könnte doch eine so unermesslich große Menge an arkaner Kraft entweichen, dass die Erde selbst aufbricht und ihr feuriges Inneres über uns ergießt. Gerade beim Avatar des Feuers wären die Art und das Ausmaß der Verheerung denkbar. Bis vor zwei Jahren hätte schließlich niemand geahnt, dass ein Avatar überhaupt sterben kann. Wer weiß schon, was dabei passiert.“
Über die Worte von Carsten mussten die anderen beiden erst einmal nachdenken. In einer öffentlichen Rede hatten die Vinalii bestätigt, dass Vanadis in der letzten Schlacht gefallen war. Seitdem kamen viele Fragen und Ungewissheiten auf.
Jörsten schenkte den Freunden nach und gab seine eigene Ansicht preis: „Was wäre, wenn hinter alldem ein raffinierter Plan gestanden hätte? Es gibt nur eine Partei, die von der aktuellen Lage wirklich profitiert: Die Elementarwesen. Von Orayus höchstpersönlich wurden sie in die letzten Ausläufe von Aodhan vertrieben. Ihre Macht und ihr Umgang mit dem Element Feuer ist uns weit überlegen. Man munkelt gar, dass sie im Krieg einen Pakt mit den Kindern Alfaniirs hatten. Nun haben sie ein ganzes Land für sich, das kaum noch ein Lebewesen betreten kann und vor feuriger Energie strotzt. Für den Verlust von einigen wenigen Feuerelementaren sind wiederum Hunderttausende Menschen im Aschenland gefallen.“
Die Flamme der Öllampe züngelte höher und knisterte taktvoll, als wollte das Feuer die Aussage bejubeln. Der Wind heulte wehklagend und der Regen peitschte trommelnd gegen die Fensterläden, während die drei zum letzten Schluck ansetzten. „Wer sind wir armen Trottel schon, uns mit solchen Fragen zu beschäftigen? Wir töten weder Avatare und noch benennen wir ganze Länder um, wie das Aschenland! Für uns sind andere Sachen von Relevanz: Wie viele Flaschen benötigt das Wetter noch, um sanfter zu werden, oder womit bestelle ich die Felder als nächstes? “, sprach Manni eindringlich und leicht säuselnd.
Die anderen nickten zustimmend und Jörsten ging zur Lagertruhe, um eine weitere Flasche Schnaps zu holen. „Was sät ihr zur nächsten Tauung aus?“
Zeit: -51 NZ; Ort: Aenos-See, Aenoisches Reich
Das kleine Fischerboot trieb gemächlich auf der weiten Fläche des Aenos-Sees. Die Wellen wiegten es sanft hin und her, während das Licht des Halos die See zum Glitzern brachte. Saphirus lag am Bug und ließ seine Gedanken schweifen. Sein übereilter Aufbruch war keineswegs geplant gewesen, als er vor zwei Tagen mit dem Fischer losgesegelt war. Dann schreckte eine etwas größere Welle den Träumer auf.
„Hey Jack, wann erreichen wir die nächste Insel?“, fragte er den Bootsführer. Er hatte ihn selbst so getauft, weil er seinen richtigen Namen nicht verstanden hatte. Vielleicht hatte es auch am Stress gelegen, um möglichst schnell Gyldsam zu verlassen. Mit knappen Worten schätzte Jack die Dauer auf wenige Stunden ein. Gelangweilt von seinem wortkargen Seemann, lehnte sich Saphirus an die Reling und schaute in die Wellen. Kaum fünf Sätze hatten sie gewechselt und seine leichten Schuldgefühle vergingen nicht. Ständig dachte er, dass die Avatarin des Wassers ihn aufspüren und richten würde. Ihm war natürlich bewusst, dass seine Ängste unbegründet waren, denn Sahiry hatte Wichtigeres zu tun.
Jack fragte neckend: „Schon ein paar Relikte am Grund erspäht? Hier in der Gegend gibt es einige seichtere Stellen, die man als geübter Taucher sogar erreichen kann.“ Erfreut darüber, dass sein Gegenüber mehr als drei Worte in Folge sprechen konnte, drehte er sich zu ihm. „Wer weiß, vielleicht habe ich bis zum Ende unserer Reise ja Glück. Wie heißt es schließlich so schön: Selbst ein blinder Fisch kann schwimmen.“ Amüsiert von dem kurzen Gespräch beobachtete Saphirus wieder die See, während er nun ausschweifend von seinen vergangenen Erlebnissen berichtete.
Einige Seemeilen später erreichten sie eine größere Sandbank. Jack hatte glücklicherweise für längere Fahrten eine Feuerschale und ein wenig Restholz dabei. So konnten sie ein improvisiertes Lager errichten. Neben dem Knistern des kleinen Feuers war vor allem die See zu hören: Das taktvolle Rauschen des Wassers, wenn die Wellen gemächlich die Sandbank umspülten. Ein laue Brise wehte über ihr offenes Lager, sodass die Funken der Flammen glühend in den Himmel getragen wurden.
Mit einem Stöckchen zeichnete Saphirus kleine Figuren in den Sand. Er war fasziniert von dem einfachen Zauber, den Wind und Feuerschein in den Bildern erweckten. „Erzähl mir von dem Aenos-See!“, warf er in die Runde, ohne den Blick zu heben. Das Schauspiel im Sand behielt ihn im Bann.
Ein herzhaftes Lachen kam vom bejahrten Seemann, der nun zu seinem Passagier hinüber sah. Er war als Fischer aufgewachsen und kannte daher viele Geschichten über den Aenos-See. Die Glut des Feuers bewegte ihn, mit den alten Schiffsschlachten zu beginnen. Bevor das Aenoische Reich begründet worden war, hatten bereits die ersten Menschen auf dem Wasser gekämpft. Etliche Schiffe versanken in der rauen See. Selbst sein Urahn konnte nur noch die jenseitigen Ufer ansteuern. „Ihr Vermächtnis ist das neue Reich und die unzähligen Schätze und Relikte, die in den Tiefen der See verborgen liegen. Heutzutage lockt es daher einige Relikttaucher hierher, die ihr Glück in den Wogen der See versuchen“, beendete er seine Ausführung.
Saphirus war fasziniert von den Geschichten. Üblicherweise hätte ihn die ruhige und langsame Erzählweise gestört, doch es passte zu dem Schauspiel im Sand. Ganz gemächlich verwehte der Wind die letzte Szenerie. „Ist es nicht erschreckend, wie schnell die Vergangenheit verblasst? Vielleicht besteht unser Dasein wirklich nur aus einem Knall und Rauch“, sinnierte er vor sich hin. Ein bestätigendes Nicken brachte Jack noch hervor, bevor er sich es im Sand gemütlich machte.
Es war mitten in der Nacht, als Saphirus aufstand. Der Drang, der See etwas von seinem Wasser wieder zu geben, hatte ihn aus dem Schlaf gezerrt. Er ging ein Stück von ihrer Schlafstätte weg, bis seine nackten Füße von den Wellen umspielt wurden. Während er sich erleichterte, wechselte sein Blick von den Sternen zur See. „Beim Worte Saels! Träume ich?“, raunte er. Etwas Funkelndes lag einige Schritt vor ihm im seichten Gewässer. Zweimal rieb er sich den Schlaf aus seinen Augen und entdeckte erneut das Aufblitzen. Dann watete er vorsichtig in das kniehohe Wasser. Gerade als er sich vorbeugte und das Kleinod zu fassen bekam, erwischte ihn eine Welle und brachte ihn zu Fall.
Triefend und leise fluchend setzte er sich an die Feuerschale mit der letzten leuchtenden Glut. „Da tritt mich doch ein Gaul!“, entfuhr es ihm, den gefundenen Schatz betrachtend. Eine Münze mit gesockelten Edelsteinen am Rand lag in seiner Hand. Die meisten der Steine fehlten, aber ein Randstück mit Vieren hatte überdauert. Das Gewicht verriet ihm, dass der Taler aus hochwertigem Material sein musste, und seine Finger erfühlten eine Gravur. Bei den unzureichenden Lichtverhältnissen würde er der Münze keine weiteren Geheimnisse entlocken können, doch legte er sich mit einem Hochgefühl wieder hin. „Ich habe tatsächlich einen Schatz aus dem Aenos-See gefunden.“ Dann drehte er sich er sich zu Jack um, der seelenruhig zu schlafen schien. Etwas spöttisch flüsterte er in seine Richtung: „Wie mein Oheim immer sagte: Der frühe Vogel hat Gold im Mund.“
Zeit: -473 NZ; Ort: Milida'an
Bauleiter Tanaka schirmte die Strahlen des Halos mit seiner Handfläche ab. Der Tag war klar und von besonderer Bedeutung, denn ein epochales Ereignis stand bevor. Gemeinsam mit fünf Fachkundigen durchschritt er die zentrale Erhebung von Artamis. Ihre Welt war nicht flach, sondern sanft gewölbt wie eine Haube. Diese Eigenheit sorgte dafür, dass das Licht des Halos Orte unterschiedlich lang erleuchtete. Am Weltenrand spürte man die wärmenden Strahlen nur für wenige Stunden, während hier, im Herzen, niemals Dunkelheit herrschte.
Mit andächtiger Miene kniete sich Tanaka nieder, legte die Hand auf das trockene, warme Gras und grub eine kleine Kuhle. Er zerrieb die Erde in seinen Fingern. Der Boden war weder zu sandig noch zu feucht. Hier wird eine neue Welt entstehen, dachte er, während ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht huschte.
„Beginnt mit den tieferen Bodenproben! Außerdem brauchen wir eine vollständige Vermessung: die Breite der Flüsse Mathiar und Aeri, den Umfang des Zufluss-Sees und die relative Steigung pro Hex. Los geht’s!“, rief er mit klarer, energischer Stimme, obwohl keine Eile geboten war. Sie standen schließlich an der einzigen Stelle von Artamis, die unaufhörlich vom Halo beschienen wurde. Der ideale Ort für eine neue Ära. Wo einst Kriege tobten, sollte nun Milida’an entstehen: eine Stadt des Lichts und der Vielfalt.
Die Schöpfer Artamis‘ selbst, die Vinalii, hatten Tanaka mit der Planung dieser Hauptstadt betraut. Sie sollte ein Zuhause für die sechs Völker werden, ein Ort der Einheit und Harmonie. Die Besonderheiten und die Stile ihrer Städte würden hier aufeinandertreffen. Farbenfrohe Stoffe aus Asaltingen, der Gemeinschaftssinn der Aenaier, die Freiheit von Tahlos, der Einfallsreichtum Grifthalls, die Neugier Alabastaans und die Pracht Aedars – all dies würde in Milida’an verschmelzen. Tanaka drehte sich langsam um die eigene Achse und seine Gedanken malten Bilder der zukünftigen Stadt. Er sah lachende Menschen und Kinder, die unterschiedlicher nicht sein könnten, spielend auf den Straßen. Neugierige Forscher und Erfinder, die gemeinsam visionäre Ideen entwickelten. Farbenfrohe Künstler im Austausch miteinander und Baumeister, wie ihn, die zusammen neue Stile schufen. Milida’an würde ein Ort unermesslicher Möglichkeiten sein.
Nach einer Weile griff Tanaka in seinen Rucksack, zog eine Handschaufel heraus und vertiefte die Kuhle. „Alle herkommen! Bringt den Grundstein!“, rief er seinen Kollegen zu. Drei Männer hoben den schweren Stein aus weißem Lapial an, einem der härtesten Gesteine von Artamis, und trugen ihn vorsichtig herbei. Behutsam ließen sie den sechseckig geschliffenen Pfahl in die vorbereitete Grube sinken. Tanakas Einschätzung war präzise gewesen: Der Grundstein ragte exakt einen Meter aus dem Boden. Während die anderen die Kuhle auffüllten, trat Tanaka einen Schritt zurück und sprach mit ruhiger Stimme: „Heute haben wir den ersten Stein der neuen Hauptstadt gelegt. Für diese mag er nur der Grundstein sein, doch für die Völker Artamis ist er ein Hoffnungsschimmer und Meilenstein. Über Jahrhunderte haben wir uns auf diesem Fleckchen Erde bekriegt. Eine neue Ära beginnt hier und heute. Eine Zeit für Frieden und Eintracht und eine Stadt, die genau dies verkörpern wird: Milida’an.“
Einen Moment lang verharrte Tanaka. Er legte die Hand auf die glatte Fläche des Steins und spürte etwas, das sich wie das Schicksal selbst anfühlte. Die anderen taten es ihm gleich und so standen sie alle sechs um den Grundstein, die Augen geschlossen. Die Strahlen des Halos umhüllten sie mit ihrem warmen Licht und machten diesen Augenblick vollkommen.
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